Standards für die Identifikation

lebender Personen nach Bildern.

Grundlagen, Kriterien und Verfahrensregeln für Gutachten.

 

Fassung vom 16. 6. 2003, veröffentlicht in foto-identifikation.de.

Erste Fassung 1999 veröffentlicht in: Anthropologischer Anzeiger 57/2: 185-191, Deutsches Autorecht 4/99: 188-189, Kriminalistik 4/99: 246-248, Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ 1999/5: 230-232, Rechtsmedizin 9: 152-154.

 

 

 

1. Arbeitsgruppe

Diese Standards wurden von folgenden Mitgliedern der AGIB „Arbeitsgruppe für die anthropologische Identifikation lebender Personen nach Bildern“ erstellt: Dr Dieter Buhmann, Homburg/Saar; Prof Dr Richard P Helmer, Bonn und Remagen; Prof Dr Uwe Jaeger, Jena; Prof Dr Dr Hans W Jürgens, Kiel; Prof Dr Rainer Knussmann, Hamburg; Prof Dr Friedrich W Rösing, Ulm (Vorsitzender); Prof Dr Horst D Schmidt, Ulm; Prof Dr Johann Szilvassy, Wien; Prof Dr Dr Gerfried Ziegelmayer, München, und von der Gruppe der heute 11 zugelassenen Gutachter (siehe Netzseite http://www.foto-identifikation.de/) überarbeitet. Beratende Mitglieder waren für das Qualitätsmanagement Wolfgang Grundgeir, Fa Pharos Ulm und für Rechtsgrundlagen Christine Hengstler, Leiterin der Rechtsabteilung des Universitätsklinikums Ulm.

 

2. Ziel

Das Ziel dieses Textes ist es, Auftraggebern, Beteiligten und Betroffenen eines Identitätsgutachtens ein Grundverständnis der wissenschaftlichen Prinzipien, Kriterien und Arbeitsregeln zu vermitteln, auch um die Qualität eines Gutachtens beurteilen zu können. Es ist hingegen nicht Ziel, hier eine Zusammenfassung der zugrundeliegenden wissenschaftlichen Methodik der morphologischen Anthropologie (ein Teil der größeren Humanbiologie) zu geben, dafür sei auf die unten zitierte Literatur verwiesen.

Inhaltlich geht es hier um die Identifikation Lebender, also sog. Foto- oder Vergleichsgutachten: eine Person wird z.B. von einer Überwachungskamera aufgenommen, und mit dieser Aufnahme soll eine lebende Person verglichen werden. Die Herkunft der Bilder ist meist eine Überwachungskamera im Schalterraum einer Bank oder eine Dokumentationskamera im Straßenverkehr. Andere humanbiologische oder kriminalistische Identifikationsverfahren sind nicht gemeint, also nicht die Skelettidentifikation oder der Vergleich von Fingerabdrücken.

 

3. Prinzip

Die Identifikation gründet auf dem Prinzip der Ähnlichkeit. Sie wird im allgemeinen ganzheitlich und rasch eingeschätzt und beurteilt, wobei es bei der Entscheidung zwischen identisch und nichtidentisch eine Tendenz zur Prägnanz gibt, d.h. zu einer Polarisierung zwischen den beiden Möglichkeiten. Beim wissenschaftlichen Identitätsgutachten werden diese drei Kriterien Ganzheitlichkeit, Geschwindigkeit und Prägnanztendenz vermieden. Es werden vielmehr möglichst detaillierte Einzelstrukturen benannt, die Analyse wird vor allem sorgfältig und nicht unbedingt schnell durchgeführt, und es sind viele Zwischenstufen der Ähnlichkeitseinschätzung möglich.

 

4. Rechtsgrundlagen

Das Erkennen von Gesichtern ist eine hoch entwickelte menschliche Grundfähigkeit. Insofern ist die Identifikation von Personen normaler Bestandteil polizeilicher wie staatsanwaltlicher Ermittlungsarbeit und prozessualer Beweisaufnahme. Wenn allerdings Identitätsaussagen strittig oder nicht eindeutig sind, ist ein wissenschaftliches Identitätsgutachten geboten. Dies gilt insbesondere im Strafprozess, da in diesem der Ermittlungsgrundsatz gilt. Er bedeutet, dass das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist. Somit sind besonders hohe Anforderungen an die Beweisaufnahme zu stellen, da die unkritische Übernahme eines vermeintlich sicheren Wiedererkennens durch einen Zeugen oder einer vermeintlich sicheren wissenschaftlichen Identifikation eine Hauptursache von Fehlurteilen ist. Dies ist 1985 vom Bundesgerichtshof in einer Revisionsentscheidung mit Grundsatzcharakter bekräftigt worden; in einem einstimmig ergangenen Beschluss wurde eine Strafsache an das zuständige Landgericht zurück verwiesen, weil ein beantragtes Identitätsgutachten nicht eingeholt worden war.

Des Weiteren gilt der Grundsatz in dubio pro reo (im Zweifel für den Angeklagten), d.h. das Gericht darf keine Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten haben. Diese Zweifel entfallen, sobald das Gericht die Täterschaft aufgrund des wissenschaftlichen Identitätsgutachtens als erwiesen ansieht.

 

5. Geräte

Für die Überwachung sind Fotos wegen der besseren Bildqualität besser geeignet als Videostandbilder. Bilddokumente, die mit starker Kameraüberhöhung gewonnen wurden, erschweren die bildvergleichenden Untersuchungen. Die Erkennbarkeit von Merkmalen kann durch schlechte Aufnahmen beeinträchtigt sein; das wird stets bei jedem Merkmal zusätzlich zur eigentlichen Ähnlichkeit der Form eingeschätzt. Für eine anthropologische Identifikation nach Bilddokumenten werden Vergleichsbilder des/der Verdächtigen gefertigt. Ein Vergleich sollte möglichst mit gleichen Medien vorgenommen werden, also Bild mit Bild und nicht Bild mit realer Person. Das Nachstellen von Bildern des Verdächtigen mit der Überwachungskamera ist grundsätzlich sinnvoll; Bilder von höherer Qualität als die Überwachungsfotos sollten zusätzlich gefertigt werden. Beim Geräteeinsatz sollte die Verhältnismäßigkeit beachtet werden: so sollten bei Strafverfahren alle sinnvollen Möglichkeiten genutzt werden, während bei Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten weniger aufwändig vorgegangen werden kann. Beim Einsatz technischer Mittel sind in einzelnen Fällen alternative Vorgehensweisen möglich, insbesondere, wenn es durch das Verfahren erforderlich ist.

 

6. Merkmale

Grundsätzlich werden alle Merkmale der menschlichen Gestalt verwendet, die auf den Überwachungsfotos erkennbar sind. Besondere Aufmerksamkeit ist dem Gesicht zu widmen, außerdem dem Ohr. Neben solchen klassischen anthropologischen Merkmalen lassen sich oft auch persönlichkeitstypische Haltungen bzw. Bewegungen erkennen. Eine a-priori bzw. allgemeine Wahrscheinlichkeit von Merkmalen wie in der genetischen Abstammungsprüfung ist wegen der meist schlechten Quantifizierbarkeit und der meist unbekannten Bevölkerungshäufigkeit der morphologischen Merkmale nicht fassbar. Als Merkmal gilt nicht z.B. Nasenform (das ist eher ein übergeordneter Merkmalskomplex), sondern detaillierter die Form des Nasenrückens, dann weiter deren Absetzung gegen Nasenspitze und Nasenwurzel etc. Nützlich ist  die konzeptionelle  Unterscheidung zwischen großräumigen und kleinräumigen Merkmalen. Eine Vielzahl von Feinmerkmalen ist für die anthropologisch-erbbiologische Vaterschaftsprüfung beschrieben, erforscht und praktisch benutzt worden. Dies ist eine der Grundlagen der wissenschaftlichen Identifikation nach Bildern.

 

7. Merkmalsausprägungen

Ein Merkmal wie z.B. Nasenrückenform kann Ausprägungen wie konvex, konkav, wellig oder gerade haben. Die Verteilung in der Bevölkerung ist wichtig, denn aus ihr sind die Wahrscheinlichkeiten für Übereinstimmung abzuleiten (s.u.). Merkmalsausprägungen können sich mit Reifung und Altern verändern; daher sollte auf Zeitunterschiede zwischen Bildern geachtet werden. Außerdem können Merkmale durch Maßnahmen wie Vermummung, Maskierung oder Kosmetik unkenntlich gemacht werden.

 

8. Begutachtung

Es ist nützlich, jedoch nicht unerlässlich, im Gutachten die Grundlagen der wissenschaftlichen Identifikation darzulegen. Unerlässlich ist dagegen die vollständige Behandlung all jener Merkmale, die im begutachteten Fall beurteilbar sind. Die einzelnen Merkmalsausprägungen sind detailliert zu beschreiben; dies dient der Nachvollziehbarkeit zur Beweisführung für oder gegen eine Identität. Dabei wird die übliche und veröffentlichte anthropologische Nomenklatur verwendet. Wenn Teilaufträge erteilt werden, z.B. nur über die Körperhöhe oder ein Ohr, sind Vorbehalte der eingeschränkten Verwertbarkeit anzuführen. Die Einzelschritte der Identifikationsarbeit, die angewandten Prinzipien und die Annahmen z.B. zur Bildinterpretation, Merkmalsausprägung oder Merkmalshäufigkeit, sind ins Gutachten aufzunehmen. Bei den Formulierungen sollte berücksichtigt werden, dass das Gutachten auch von anthropologischen Laien verstanden werden muss.

 

9. Vorauswahl

Für den Fall, dass Verdächtige wegen ihrer Ähnlichkeit zum abgelichteten Täter gefunden bzw benannt wurden, wird eine Vorauswahl (Vorselektion) aus der Bevölkerung vorgenommen. Folglich ist jeder der Benannten dem Täter ähnlich, und die Beurteilung der Ähnlichkeit mit Hilfe der Häufigkeit von Merkmalen in der Bevölkerung muss verändert werden: unähnlichen Merkmalen wird ein stärkeres Gewicht gegeben und der Grad der Übereinstimmung sowie die Seltenheit der betreffenden Merkmalsausprägung muss wesentlich höher sein als ohne Vorauswahl. Wichtig ist auch die Ähnlichkeit in unauffälligen Einzelheiten, insbesondere, wenn sie bei der Benennung durch Zeugen keine Rolle gespielt haben dürften.

 

10. Vorbehalte

Jede Identifikation steht unter dem Vorbehalt, dass keine engen Blutsverwandten des Verdächtigen bzw. Beschuldigten in Frage kommen. Der Vorbehalt ist im Gutachten zu nennen. Sollte doch ein Verwandter in Frage kommen, ist er am besten in die Beurteilung durch den Sachverständigen aufzunehmen.

Eine Identitätsprüfung steht auch unter dem Vorbehalt, dass keine Veränderung des Aussehens stattgefunden hat, die auf dem Bilddokument nicht erkennbar ist. Wenn dem Gutachter  Vergleichsbilder zugeschickt wurden, ist der Vorbehalt zu erheben, dass das Bild tatsächlich die beanspruchte Person abbildet.

 

 

11. Wahrscheinlichkeit

Stets wird die Identitätswahrscheinlichkeit eingeschätzt. Sie ist abhängig von der Zahl der einbeziehbaren Merkmale und deren Häufigkeit in der Bevölkerung. Regeln der Mindestzahl von notwendigen Merkmalen gibt es bei der Identifikation nicht, denn die Zahl der notwendigen Merkmale hängt untrennbar mit deren Häufigkeit zusammen: Übereinstimmung in wenigen seltenen Merkmalen kann aussagekräftiger sein als Übereinstimmung in vielen häufigen Merkmalen. Die Wahrscheinlichkeit ist bei Fällen mit Vorauswahl (s.o.) wesentlich schwieriger einzuschätzen. Bei der Kombination von einzelnen Wahrscheinlichkeiten, ganz gleich, ob dies durch Rechnung oder Einschätzung geschieht, ist zu berücksichtigen, dass die meisten Merkmale der Gestalt des Menschen miteinander korreliert sind. Viele anthropologische Merkmale lassen sich nur schwer quantifizieren, dann schätzt sie der Gutachter ein. Für das Endergebnis eines Gutachtens lassen sich nach Schwarzfischer Prädikatsklassen verwenden:

Identität praktisch erwiesen

Identität höchst wahrscheinlich

Identität sehr wahrscheinlich

Identität wahrscheinlich

Identität nicht entscheidbar

Nichtidentität wahrscheinlich

Nichtidentität sehr wahrscheinlich

Nichtidentität höchst wahrscheinlich

Nichtidentität praktisch erwiesen

Zusätzlich lassen sich Zwischenstufen verwenden wie zB „eher nicht identisch“ oder auch Zahlen und Prozentspannen.

Vom Prinzip her ist der Identitätsausschluss einfacher als die Identitätsfeststellung: Ein Unterschied ist als Ausschluss zu werten. Aber auch dort ist eine Wahrscheinlichkeit bzw. Beweisgültigkeit einzuschätzen, weil die Sicherheit der Erkennung von Merkmalen unterschiedlich ist, weil Merkmale sich verändern können und weil sie verändert werden können.

 

12. Gutachter

Die universitäre Ausbildungsgrundlage für einen sachverständigen Identitätsgutachter ist grundsätzlich ein Studium der Anthropologie oder der Medizin; bei amtlichen Ermittlern und Kriminalisten ist die Ausbildungsgrundlage dem Aufgabenfeld angeglichen, auf jeden Fall aber ebenfalls breit und gründlich. Die speziellere Grundlage ist die intensive Beschäftigung mit der menschlichen Gestalt (Morphologie). Wünschenswert ist weiterhin Ausbildung und Erfahrung auf dem Gebiet der anthropologisch-erbbiologischen  Abstammungsprüfung. Eine spezielle Ausbildung und Einarbeitung in die morphologische Identitätsprüfung nach Bildern ist unerlässlich.

Stets muss sich der Gutachter der Grenzen der Identifikationsmethodik bewusst sein; es wird empfohlen, dies an geeigneten Stellen auch ausdrücklich zu formulieren. Die allgemeinen Anforderungen an einen Gutachter gelten auch für das Gebiet der Identifikation: er muss sich stets seiner Kompetenz und seiner Kompetenzgrenzen bewusst sein, muss mit höchster Sorgfalt arbeiten, vorsichtig schließen und vollkommen unabhängig bleiben.

Die Autoren dieses Textes sind die Gründungsmitglieder der "Arbeitsgruppe für die anthropologische Identifikation lebender Personen auf Grund von Bildern". Sie erfüllen die genannten  Voraussetzungen und berücksichtigen alle hier formulierten Grundsätze. Die Mitglieder, die Gutachten erstatten, werden in der Netzseite (http://www.foto-identifikation.de/) aufgeführt. Neue Mitglieder werden nach Prüfung aufgenommen. Das Verfahren für die Neuaufnahme wie auch die Entscheidung der Neuaufnahme selbst geschieht im Konsens der zugelassenen Gutachter. Für die laufende Qualitätssicherung wird ein Ringtausch von Gutachten (Audit) veranstaltet. Auf Wunsch eines Gutachters wird auch ein laufendes Gutachten vor der Erstattung geprüft. Es bleibt ausdrücklich vorbehalten, diese Standards für die Identifizierung auf Grund neuer Ergebnisse in Forschung und Praxis weiter zu entwickeln.

 

Literatur

Knussmann R (1983) Die vergleichende morphologische Analyse als Identitätsnachweis. Strafverteidiger 3:127-129

Knussmann R (1988) Die morphologische Identitätsprüfung. In: Knussmann R (Hrg) Anthropologie. Band I/1. Gustav Fischer, Stuttgart: 389-407

Knussmann R (.1991) Zur Wahrscheinlichkeitsaussage im morphologischen Identitätssutachten. NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht 11:175-177

Knussmann R (1996) Probleme bei der Identifikation Lebender. Vortragsmanuskript 4 S, Tagung der Gesellschaft für Anthropologie, Berlin

Schwarzfischer F (1992) Identifizierung durch Vergleich von Körpermerkmalen. insbesondere anhand von Lichtbildern. In: Kure E. Störtzer O, Timm J (Hrg) Kriminalistik. Handbuch für Praxis und Wissenschaft. Bd l. 735-761



zurück?